Warum unser Gesundheitssystem neu ausgerichtet werden muss
28. Mai 2025

Keynote von Prof. Dr. med. Peter Rohmeiß, Aufsichtsratsvorsitzender von ze:ro, anlässlich der Podiumsdiskussion vom 2. April in Schwetzingen:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

wir erleben derzeit, dass sich unser Gesundheitssystem in einer tiefen Krise befindet. Sie zeigt sich nicht primär in einem Mangel an Ressourcen oder medizinischer Kompetenz, sondern darin, dass wir das Ziel aus den Augen verloren haben, dem unsere Medizin ursprünglich dienen sollte. Wir stehen vor einem Alignment-Problem, das die Gesundheitsversorgung zunehmend entfremdet und ineffizient macht.

Was meine ich mit Alignment-Problem?

Stellen Sie sich vor, Sie würden einer künstlichen Intelligenz die Aufgabe geben: „Produziere so viele Nägel wie möglich!“ Diese KI beginnt zunächst logisch: Sie produziert Nägel aus Eisen. Doch bald benutzt sie alle Ressourcen der Erde, verwandelt den Planeten in eine gigantische Nagelfabrik, breitet sich schließlich in der Milchstraße aus, nur um möglichst viele Nägel herzustellen. Formal wäre das Ziel perfekt erreicht – praktisch jedoch komplett pervertiert.

Sie mögen schmunzeln – aber ist unser Gesundheitssystem derzeit nicht auf ähnlichem Wege? Wir geben ihm das formale Ziel der Sicherheit, des „nicht Schadens“ vor, und wir optimieren Prozesse immer weiter. Wir dokumentieren, prüfen, zertifizieren und standardisieren. Aber was passiert? Das System produziert vor allem eines: Mehr und mehr Bürokratie, die sich ständig selbst reproduziert und verstärkt. Ärzte und Pflegende werden zunehmend zu „Erfüllungsgehilfen“ der Bürokratie. Sie dokumentieren mehr, als sie behandeln, kontrollieren mehr, als sie kommunizieren. Unsere Patienten werden dabei zu „Fällen“, „Diagnosecodes“ und „DRGs“. Genau hier zeigt sich das Alignment-Problem deutlich: Formal alles richtig – menschlich und ethisch jedoch oft katastrophal falsch.

Die Folgen dieser Entwicklung sehen wir jeden Tag: Frustration und Überlastung bei Ärzten, Pflegenden und Verwaltungsmitarbeitern, schwindendes Vertrauen von Patienten, die das Gefühl haben, zunehmend anonym behandelt zu werden, und eine stetig steigende Ineffizienz, die trotz steigender Ausgaben die Versorgungsqualität nicht verbessert.

Aber wie finden wir aus dieser Krise heraus?

Der antike Arzt Hippokrates gab uns bereits vor über 2000 Jahren die entscheidende Antwort: „Erstens nicht schaden und zweitens dem Patienten helfen.“

Aber – und hier liegt der entscheidende Schlüssel – beide Ziele funktionieren nur gemeinsam und eingebettet in eine vertrauensvolle, persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient. Nur durch diese Beziehung erhält die Medizin ihren Sinn und ihre Menschlichkeit zurück.

Diese Entfremdung zwischen Arzt und Patient habe ich bereits zu Beginn meiner ärztlichen Laufbahn erlebt. Anfang der 90er Jahre begann ich meine erste Stelle als Assistenzarzt in Nürnberg. Damals erhielten wir einen neuen Chefarzt, frisch von einer Ivy-League-Universität aus den USA. Ich erinnere mich noch gut an einen Vortrag, den er uns vor dem Patientenzimmer hielt, zum Prinzip „to do no harm“ – ein kleines Büchlein in seiner Hand. Die Visiten wurden damals zunehmend theoretisch; wir diskutierten im großen Pulk über Studien und Therapierichtlinien und verbrachten nur wenig Zeit direkt beim Patienten. Anfangs faszinierte mich diese moderne, wissenschaftliche Herangehensweise, doch bald vermisste ich den humanitären Bezug, den direkten Dialog mit den Patienten, das echte Interesse an ihren Bedürfnissen.

Später, im Jahr 2000, inzwischen leitender Oberarzt in der Nephrologie an der Universitätsmedizin Mannheim, entschied ich mich für die Niederlassung. Es war eine Zeit, in der unser Gesundheitssystem sich erneut in einer Krise befand und das DRG-System eingeführt wurde. Ich verlegte meine nephrologische Praxis an ein Krankenhaus. So entstand eine Win-Win-Situation: Das Krankenhaus konnte mit meiner Praxis neue und komplexere medizinische Angebote wie Akutdialysen und komplexe medizinische Eingriffe mit der Gefahr von Komplikationen anbieten, und ich selbst hatte genug Zeit, meine Patienten auch stationär intensiv zu begleiten und Therapien mit den Klinikärzten persönlich zu besprechen.

Doch heute, gut 25 Jahre später, hat sich unser System nahezu pervertiert: Die zunehmende Bürokratisierung erlaubt es kaum noch, Patienten persönlich im Krankenhaus zu besuchen oder umfassend mit Kollegen zu sprechen. Der Austausch ist technischer geworden, der Mensch verschwindet hinter der Dokumentation. Unsere Patienten werden zu „Fällen“, „Diagnosecodes“ und „DRGs“ reduziert. Genau hier zeigt sich das Alignment-Problem deutlich: Formal alles richtig – menschlich und ethisch jedoch oft katastrophal falsch. Die Philosophie Karl Jaspers, Arzt und großer Denker, ergänzt diesen Gedanken: Medizin darf nie bloß technischer Vorgang sein. Sie muss stets existenzielle Begegnung zwischen Menschen sein, individuelle und verantwortungsvolle Fürsorge statt bürokratische Pflicht. Das ist die einzige wahre Sicherheit, die wir wirklich gewährleisten können: Menschlichkeit, Empathie und verantwortliches Handeln.

Das bedeutet für uns alle hier, für Ärzte, Apotheker, Krankenhausdirektoren, Bürgermeister und politische Vertreter: Wir müssen den Mut haben, das Alignment unseres Systems neu zu justieren. Bürokratie darf nicht Selbstzweck sein. Prozesse dürfen niemals wichtiger werden als Menschen. Unsere Ziele dürfen niemals rein formal definiert sein, sondern müssen immer eine humane Selbstreflexion beinhalten. Eine Medizin, die wieder den Menschen ins Zentrum stellt, wird automatisch Bürokratie abbauen, nicht ausbauen.

Eine Richtschnur unseres Handelns hat der der berühmte Arzt Thomas Sydenham aus dem 17. Jahrhundert folgendermaßen formuliert: „Ich habe Patienten immer so behandelt, als hätte ich selber die Krankheit, die ich behandle.“ Dieses Prinzip der Selbstreflexivität und Humanität ist ein zeitloses Ideal und erinnert uns daran, worum es in der Medizin eigentlich gehen muss.

Meine Damen und Herren, unsere gemeinsame Aufgabe besteht heute darin, ein Gesundheitssystem zu gestalten, das wieder im Gleichgewicht ist – zwischen Schadensvermeidung und aktiver Fürsorge, zwischen technischer Effizienz und menschlicher Begegnung. Nur so schaffen wir ein Gesundheitssystem, das nicht nur funktioniert, sondern das tatsächlich heilt.

Vielen Dank!

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